„En alta mar“ – wir sind auf hoher See
Corona wirkt wie ein großer Meeresstrudel, den die Menschen, die Gesellschaft, vieles bisher Gewesene gefühlt in eine Tiefe zieht. Seefahrer sind sich der Gefahr von Wasserwirbeln bewusst, für uns schien alles in der Welt beherrschbar und nun haben viele, viele weltweit das Gefühl als ob sie von tausenden Händen gepackt werden und in einen Meeressog geraten. Wir müssen uns gerade gemeinsam auf dieser hohen See navigieren und das Ruder gut festhalten. Und dann gibt es die, die für alle rudern, unermüdlich, mit aller Kraft.
Was bisher galt, gilt heute nicht mehr, und was morgen sein wird, ist völlig unklar.
Die Weltgesellschaft zeigt ihre Ohnmacht und es ist nichts individuelles. Es ist die Skizze von etwas, das man selbst, gar niemand, noch nicht erlebt hat. Es schluckt Worte. Es vervielfacht Schulterblicke, das Beobachten Anderer. Plötzlich sehen wir mehr oder weniger zugleich.
Wie erfassen wir das?
Die Eindrücke in der Welt da draußen und in den eigenen vier Zimmerwänden zwingen die Seele zur Einfachheit: Ich bin hier, weil ich lerne. Für das Innenleben ist es eine beispiellose Zeit. Eine Zeit, in der all meine Reisepläne über Bord gingen. Ein Zukunftsforscher glaubt, dass Reisen die populärste Form von Glück sei. Das liege vor allem an zwei Dingen: Reisen ermögliche den Orts- und auch einen Rollenwechsel. In diesen bewegenden Zeiten ist es für mich Reisen ohne exotische Note. Der Rahmen der Bewegung ist klein, aber ich habe meine Gedankenfreiheit. Und es fühlt sich an, wie ein Ankommen ohne stehen zu bleiben.
Den Blick nach vorn, meine Schritte tun im gleißenden Strahl der Sonne. Der Waldboden federt unter meinen Schritten. Es läuft sich wie auf Wolken und es riecht so gut. Ist das Reisen? Welche Großartigkeit. Achtsam nehme ich das neue Leben am Boden wahr, die weißen Tupfen auf dem Waldboden, Frühblüher. Sie tanzen im leisesten Windhauch, ich lasse die Welt da draußen rauschen. Die Bedeutung der Nachrichten, die neue Unübersichtlichkeit schrumpft: Erholung.
Es ist etwas so unmittelbar Gegenwärtiges und mir wird klar, was mir ein Moment am Tag gibt.
Es hat sich ausgereist – Erlebe ich dadurch einen Mangel? Ist Reisen tatsächlich ein Statussymbol und eine Sinnstifter im eigenen Leben?
Wenn wir reisen verlieren wir uns und wir reisen, um uns zu finden. Wir reisen um unsere Herzen und Augen zu öffnen und über und von der Welt zu lernen, unmittelbarer als es uns das Lesen in Zeitungen oder Büchern ermöglicht.
Aufrütteln und das Fernweh akzeptieren, ich habe keine Referenz in der Zukunft. Der Kurs des Lebens wird durch Reisepläne definiert, zwar ist die Vorfreude auf das Unterwegssein vorhanden, aber überhaupt nicht in greifbarer Nähe. Es pocht eine Sehnsucht in mir, doch gibt es nicht einmal Flugzeuge am Himmel, denen ich nachschauen kann. Satt Fernweh stellt sich zu allererst die Sehnsucht nach Normalität ein. Wer in diesem Frühling Menschen treffen will, der starrt auf kleine Rechtecke auf dem Bildschirm. Besonders in Zeiten großer Verunsicherung und Einschränkung des sozialen Lebens sind Freundschaft und Vertrauen wichtiger Anker. Und die große weite Welt schmilzt auf die Größe eines Zimmers zusammen.
Reisen ist für mich seit Jahrzehnten mehr als Urlaub. Vielmehr Freiheit in einem Sinne, die mir oft zu selbstverständlich war: Nämlich Grenzen überqueren, wann und wo ich will. Natur und Kultur genießen. Menschen treffen, die so ganz anders leben als ich und an die ich mich immer erinnern werde. Stattdessen erfahren wir Grenzen und Distanzen in diesen Tagen. Sie bedeuten das Ende des Balkons, des heimischen Gartens, das Schließen der Haustür. Etwas Urzeitliches präsentiert sich da bei der Bekanntgabe, dass die Grenzen dicht sind, unzählige Reisende in ihren Fernwehländern gestrandet, teilweise unter widrigsten Umständen. Die Unbeschwertheit des Reisens ist aus den Angeln gehoben. All das, was man sieht, liest und hört ja auch spürt ist losgelöst von den Stetigkeitswerten.
Hier und Jetzt üben wir uns in Leere aushalten. Der Ruhegehalt ist groß. Diese Krise ist aber auch der Wind unter unseren Flügeln in Sachen Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt – eine Art Katharsis. Das uns das berührt, was wir sehen. Genauer hinsehen, auch unserem Status quo mehr Aufmerksamkeit schenken.
Wellen kommen, Wellen gehen, soviel habe ich bereits gelernt in dem Meer als Landschaft in meinem Spielplatz der Welt – ein Erlebnis von Ewigkeit.
Es heißt Träume seien Bücher, die deine Seele über dich schreibt. Im Schlaf träume ich vom Meer, am Tag träume ich vom Meer, von dem besonderen Licht. Ich bin mir gewiss „Voir la mer“, „Das Meer sehen“ wird ganz neu sein, meine Utopie vom Fernweh.
Doch nun erst einmal zu heute, im Frühling 2020: Ein Tag, still, zerbrechlich, wie am seidenen Faden, der sprießt und blüht und welkt in einem. Er lehrt vor allem, dass Vertrauen Leben ist. Ich gehe mit Zuversicht in jeden nächsten Tag und trage Fernweh in mir. Denn „Nur wer sich der Umwelt anpasst, überlebt darin“ gab uns schon Darwin mit auf den Weg. Doch wie hoch ist unser Anspruch nicht nur am Leben zu sein sondern auch zu fühlen?!
Reisen heißt für mich: mich infrage stellen, Vorurteile loslassen, mutig sein, Glücksmomente spüren. Und danach oft mein Zuhause und meine Heimat umso mehr schätzen. Auch, weil sich Frieden und Sicherheit in so manchen bereisten Ländern als so fragil erwiesen hat.
Was bleibt auf der Bucketliste? Einiges, aber nichts davon ist zurzeit möglich, deswegen bleibt mein Rucksack auf dem Dachboden. Ich nutze heute wieder mal ein digitales Angebot, in welcher Galerie oder in welchem Museum mache ich heute einen virtuellen Rundgang?
von Christa Frings
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